Legende oder Wirklichkeit
Von Martin Schnakenberg
Auch Kunstwerke können ihren Mythos haben, zumal wenn legendäre Umstände sie umgeben. Zu den weltberühmten Schöpfungen, die etwa seit den letzten Kriegswochen bis in unsere Tage Furore machen und als „achtes Weltwunder“ die Kunstwelt in Atem halten, zählt das Bernsteinzimmer. Anfang 1945 ging es nach Bombenangriffen und Sowjeteinmarsch verloren. Auch 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs verbreitet es noch Geheimnisse um sich…
Unzählige selbsternannte Schatzsucher mit zahllosen Theorien, Journalisten, Amateurhistoriker, Filmemacher, Privatdetektive, Politiker und Kunstexperten gehen immer noch den vermeintlichen Spuren des historischen Bernsteinzimmers nach – zu einer Zeit, in der seit 2003 unter hohem Aufwand eine glanzvolle Rekonstruktion wiedererstand.
.
Andreas Schlüter, der berühmte Hofbaumeister der preußischen Könige, hatte 1701 die Pläne für die kostbare Wandtäfelung mit dem „Gold der Ostsee“, wie man den Bernstein nennt, entworfen. Von Bernsteinschnitzern aus Kopenhagen und Danzig gestaltet, schmückte das Kunstkabinett zunächst das Charlottenburger Schloss in Berlin. 1716 machte es Friedrich Wilhelm I. dem Zaren Peter dem Großen zum Geschenk. Der russische Monarch bedankte sich mit 248 „Langen Kerls“ aus seinem Reich für die Leibgarde des Soldatenkönigs – eine Geste, die auch die damalige freundschaftliche Bündnispolitik zwischen Preußen und Russland sinnfällig zum Ausdruck brachte.
In St. Petersburg lagerte das generöse Preußengeschenk zunächst im Sommerpalast und in der Kunstkammer des Zaren, ehe es 1741, als die Zarentochter Elisabeth I. den Thron bestieg, im Winterpalais Aufstellung fand. Friedrich Wilhelms Sohn Friedrich II. unterstrich 1745 seine Verbundenheit zum Zarenhaus gleichfalls mit einem weiteren Geschenk, einem wertvollen Bernsteinrahmen. Ihm stand Kaiserin Maria Theresia von Österreich nicht nach, die wertvolle florentinische Steinmosaiken dem Bernsteinzimmer der Zarin hinzufügte.
Doch Luftfeuchtigkeit machte dem empfindlichen Bernstein im Winterpalais zu schaffen, so dass die Zarin sich 1755 entschloss, den fast 100 Quadratmeter großen Festsaal in ihren neuen Sommerpalast von Zarskoje Selo (heute Puschkin) zu verlegen. 1763 stattete Zarin Katharina II. den Raum auch mit einer Decke von 450 Kilogramm Bernstein aus. Kommoden aus gleichem Material und andere Kunstgegenstände polnischer und russischer Bernsteinschnitzer vervollständigten die Kostbarkeit des Katherinenschlosses.
Jahrhunderte lang blieb ihre Schönheit eine selten gesehene künstlerische Attraktion der Fachwelt. Nach der Revolution von 1917 waren für die neuen Machthaber Schloss und Kabinett gar ein Schandfleck aus der verhassten Zarenzeit. Erst 1941 mit dem Einfall Hitlers in die Sowjetunion erregte das Katharinenpalais wieder allgemeine Aufmerksamkeit. Deutsche „Kunstschutz-Offiziere“ konnten bei der Belagerung Leningrads nicht verhindern, dass vandalisierende Landser mit Gewehrkolben Stuckaturen und Teile aus den Bernsteinverkleidungen herausbrachen und eines der wertvollen Steinmosaike entwendeten.
Bis der deutsche Kunstbeauftragte des Heeres, Rittmeister Graf zu Solms-Laubach, das gesamte Bernsteinzimmer aus dem Katharinenpalais entfernen ließ und im Königsberger Schloss unterbrachte. Hier stand es noch einmal für zwei Jahre der Öffentlichkeit zum Besuch zur Verfügung. Im August 1944 legten britischen Bomber das Königsberger Schloss in Schutt und Asche. In weiser Voraussicht hatte der Schlossdirektor Dr. Rohde das Bernsteinkabinett in Kisten verpackt und in den bombensicheren Kellergewölben des Schlosses gelagert.
Mit dem Einmarsch der Sowjetarmee in Königsberg verliert sich jede nachweisbare Spur. Dafür mangelte es nicht an immer wieder neu auftauchenden Spekulationen, wo das künstlerisch einmalige Kabinett seitdem verblieben sei. Da gab es die These eines sowjetischen Kunstoffiziers, der im Südflügel des Königsberger Schlosses verkohlte Reste mit Scharnieren und weitere unbrennbaren Überbleibseln des Bernsteinzimmers ausgemacht haben will. Warum er später seine Aussage dahin revidierte, das Zimmer habe den Krieg unbeschadet überstanden, bleibt sein Geheimnis. Andere wollten wissen, es sei bei der Flucht der Deutschen aus Ostpreußen mit einem Transporter wie der torpedierten „Wilhelm Gustloff“ auf dem Grund der Ostsee gelandet oder auf dem Gebiet der ehemaligen DDR versteckt worden. Dort wurden angeblich 150 geheime Lagerplätze in Thüringen oder im Erzgebirge als letzte Aufenthaltsorte verdächtigt. Auch unterirdische Gewölbe im Harz und Höhlen in Bayern und Österreich fanden eine Beachtung bei den Suchenden. Eine Suche auf der Wolfsschanze und in einem Salzstock Nähe Gorleben blieb allerdings ohne Erfolg.
Vor wenigen Jahren tauchten zwei Originale des Bernsteinzimmers wieder auf: in Bremen wurde im Kunsthandel das Bild „Tasten und Riechen“ im Bronzerahmen angeboten. Vermutlich stammte es aus einem Diebstahl eines deutschen Offiziers während des Transports von Petersburg nach Königsberg. Auch eine Bernsteintruhe, die in Berlin ausfindig gemacht wurde, hatte ursprünglich im Bernsteinzimmer des Katharinenschlosses gestanden. Beide Kunstobjekte wurden der russischen Regierung übergeben.
.

.
Ein Farbfoto und einige Schwarz-weiß-Fotos des Originals veranlassten 1979 die Moskauer Regierung zur Wiederherstellung des Kunstobjekts. Die spärlichen Vorlagen reichten einer Reihe hochqualifizierter Restauratoren, die diese Techniken des 17. und 18. Jahrhunderts beherrschten, aus, um das einzigartige Kunstwerk aus Bernstein mit den aufwendigen Steinarbeiten für die Florentiner Mosaike noch einmal zum Leben zu erwecken. Über eine halbe Million Bernstein-Stückchen mit einem Gesamtgewicht von sechs Tonnen mussten von den bis zu 50 Kunsthandwerkern zu dem glanzvollen Bernsteinsaal zusammengesetzt werden. Für die Finanzierung fand sich ein überaus spendabler und mit deutschen Steuergeldern ausgestatteter „großzügiger Sponsor aus Deutschland“, die E.On Ruhrgas AG, die mit 3,5 Millionen Dollar, aus für ihre deutschen Strom- und Gaskunden unberechtigt, gewinnsüchtig und skrupellos erhobenen Preiserhöhungen, die Wiederherstellung ermöglichte.
Was im Gegenzug dazu für die Kultur Deutschlands, Russlands und der historischen Welt allerdings einen Gewinn brachte, welches trotz aller Vorbehalte inzwischen nicht mehr mit anderen Werten bezahlbar ist.
.
Zum 300. Geburtstags von St. Petersburg erstand im Katharinenpalais von Zarskoje Selo das barocke Kabinett aus dem „Gold der Ostsee“ in neuer Pracht. Am 31. Mai 2003 präsentierten es der russische Staatspräsident Wladimir Putin und sein Freund, der deutsche Bundeskanzler und spätere Gaskönig Gerhard Schröder der Weltöffentlichkeit. Das Schicksal des Bernsteinzimmers, ein Symbol der wechselhaften Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, hatte ein glückliches und versöhnliches Ende gefunden.
.
Weitere Hinweise:
http://de.wikipedia.org/wiki/Bernsteinzimmer
http://www.kirov-center.org/dzk06_01_30005.shtml
http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,250377,00.html
http://www.ib.hu-berlin.de/~pbruhn/bernzim.htm
http://www.eon-ruhrgas.com/cps/rde/xchg/er-corporate/hs.xsl/2278.htm
.