Reifezeugnis

Von R. Jung, erstmals verteilt durch den Deutschen Kinderschutzbund, Landesverband Baden-Württemberg im Herbst 1972

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Papa, Matze hat gesagt… – Heute: Wer ist hier feige, bitteschön?

Vater und Sohn im Zwiegespräch

Der folgende Dialog hat eine wahre Vorgeschichte: Als ich während eines Einkaufbummels kurz vor einer Parkplatzausfahrt stehen blieb, um mich mit jemandem zu unterhalten, überholte mich eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter, die vor ihr lief.

Auf der Höhe der Ausfahrt raste plötzlich ein Auto heraus und musste mit quietschenden Bremsen halten, weil in diesem Moment das kleine Mädchen auf der Ausfahrt stand. Die Kleine fiel vor Schreck hin, wobei ihre Puppe auf die Motorhaube knallte. Sofort sprang der Fahrer raus und brüllte sie an: „Kannst du nicht aufpassen, dumme Göre? Jetzt hast du mir ’ne Beule in meine Motorhaube geschlagen!“ – Da die Mutter sich vor Schreck nicht rührte, kam ich hinzu und wies mit dem Finger auf sein Handy: „Und ich rufe jetzt sofort die Polizei, weil Sie während der Fahrt telefoniert haben!“ – Der Mann wurde blass, schaute auf sein Handy und fing an zu stottern: „Das … das wollte ich nicht.“ – Ergebnis: dem Mädchen war außer dem Schreck nichts passiert, die Frau erhielt 200 Euro und die Sache war erledigt.

Mein Vater-Sohn-Dialog nimmt genau dieses Thema wieder auf. Viel Spaß, aber auch viel Input zum Überlegen des eigenen Handelns. Denn dieses kann auch auf viele andere Bereiche übertragen werden…

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Wer ist hier feige, bitteschön?

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Vater und Sohn im Auto.

SOHN: „Papa, Matze hat gesagt, sein Vater hat gesagt, wer sich nicht einmischt, ist ein Feigling!“

VATER zerstreut: „Was ist schon wieder? Warte mal einen Augenblick, ich muß mich hier mal konzentrieren.“

Geräusch eines hochgezogenen Motors.

VATER: „So! Nun kann die Dame weiterschlafen am Steuer! – Und wer ist nun angeblich ein Feigling?“

SOHN: „Wer sich nicht einmischt! Matze sagt, sein Vater sagt, hauen ist keine Privatsache.“

VATER: „Hauen?“

SOHN: „Ja, hauen. Ich meine, prügeln, verdreschen, vermöbeln, zusammenschlagen, fertigmachen, in ’n Hintern treten…“

VATER unterbricht: „Ja doch, ich hab’s begriffen! Mein Gott, ich wünschte, dein Sprachschatz wäre auf allen Gebieten so atemberaubend.“

SOHN: „Das geht garnich. Weil’s nämlich bloß für hauen so viele Worte gibt. Matze und ich haben mal in so einem Buch nachgeguckt. Da war’n 76 Wörter für hauen und schlagen und so was. Und für „lieben“ gab’s bloß … ich glaub 17!“

VATER: „Na, das reicht ja wohl auch. – Wolltest du nicht über ganz was anderes reden?“

SOHN: „Na ja, eben, dass Matze’s Vater sagt, das geht jeden an, wenn geprügelt wird, und dass man sich da einmischen muß.“

VATER: „Da spielt Matze’s Vater ja wieder mal den großen Helden! Einmischen! In Prügeleien! Pah! Soll ich mich vielleicht dazwischen schmeißen, wenn sich zwei besoffene Typen in irgendeinem miesen Schuppen eins in die Fresse geben, wie?!“

SOHN verblüfft: „Aber Papa, wie redest du denn??“

VATER leicht verlegen: „Ich bediene mich nur der Sprache derer, die sich prügeln und in deren Auseinandersetzungen ich mich ganz bestimmt nicht einmischen werde.“

SOHN: „So was meint Matze’s Vater doch garnich! Er meint doch Kinder und Frauen! – Paß auf, da kommt ’ne Wegverengung…“

VATER: „Längst gesehen…“

SOHN: „Matze sagt, sein Vater sagt, man muß sich einmischen, wenn Kinder oder Frauen geschlagen werden. Weil sie die Schwächeren sind.“

VATER: „Nicht weil sie die Schwächeren sind, sondern sofern sie die Schwächeren sind! Nicht alle Frauen sind die Schwächeren. Ich hab schon Männer erlebt, die sich nicht nach Hause trauten, weil ihre liebe Frau Gemahlin … na, lassen wir das.“

SOHN: „Aber Männer haben mehr Muskeln. – He du, das war aber schon beinahe rot!“

VATER: „Das war nicht „schon beinahe rot“, sondern noch reichlich gelb.“

SOHN: „Aber die Kinder sind immer die Schwächeren!“

VATER: „Körperlich sicher. Natürlich. Dafür sind sie den Erwachsenen in anderer Hinsicht überlegen.“

SOHN: „In welcher denn?“

VATER: „Das müsstest du doch am besten wissen: Kinder können zwölf Stunden hintereinander Musik hören, sie können von früh bis spät durch die Wohnung rennen und Türen knallen, sie können … sie könnten monatelang ohne Seife, Zahnpasta und Kamm oder Bürste auskommen, sie können jede Menge Unordnung und …“

Sohn unterbricht: „Aber das nützt ihnen doch alles gar nichts, wenn sie geprügelt werden!“

VATER: „Nein – aber andererseits führen diese besonderen Talente der Kinder gerade zu jenen Auseinandersetzungen, bei denen es dann schon mal eine Ohrfeige setzt.“

SOHN: „Ohrfeige … davon redet doch keiner. Es geht doch um richtige Prügel! Manche Kinder werden dauernd geprügelt! Wegen jedem bisschen. Halbtot geschlagen werden die! Und da muß sich eben jeder drum kümmern!“

VATER: „Ja, natürlich – da hast du recht.“

SOHN ereifert sich: „Oder auch mit den Arbeitslosen und Rentnern. Die werden auch geprügelt. Matze’s Vater sagt, es gibt keine Arbeit und trotzdem werden die bestraft, weil sie keine Arbeit bekommen können. Und dann zieht man denen lieber das Geld ab und unterstützt damit die Reichen, die sowieso schon genug haben. Matze’s Vater sagt, das ist auch eine Art des Prügelns. Und da sollte sich auch jeder drum kümmern, dass es anders wird.“

VATER: „Auch da hast du recht. Es ist eigentlich ziemlich ungerecht, was da gerade läuft. Aber das ist Politik. – Hattest du vorher nicht ein ganz anderes Thema?“

SOHN unbeirrt: „Aber die Leute machen das eben nicht! Sie haben Angst, dass sie Ärger kriegen. Die sind eben feige!“

VATER: „Was heißt hier feige … mit großer Wahrscheinlichkeit werden sie ja auch Ärger kriegen. Mit den Nachbarn, mit den Ämtern, mit der Polizei…“

SOHN: „Na und? Wenn’s doch wichtig ist?“

VATER: „Ja doch, du hast ja recht.“

SOHN: „Matze sagt, sein Vater sagt, wenn Menschen Sachen wären, dann wär das alles anders!“

VATER: „Was?“

SOHN: „Ja, weil das dann Sachbeschädigung wäre, wenn jemand ’ne Frau oder ’n Kind oder ’nen Hartz4ler kaputtmacht! – Und dann müsste der vielleicht blechen, Mann!“

VATER: „Blechen! Wie redest du denn schon wieder! Und überhaupt, was ist das alles für ein Unfug.“

SOHN: „Garnich! Sachbeschädigung ist ’ne klare Sache. Und so ’ne Frau zum Beispiel, wenn die auch noch arbeitet, die ist doch was wert!“

VATER: „Also, du erwartest wohl nicht, daß ich ernsthaft auf diese Hirngespinste eingehe.“ – Er hupt mehrmals. – „Nun sieh dir das an! Schon wieder so ein Kind auf’m Fahrrad ohne jede Beleuchtung!! Das ist doch der reine Selbstmord bei diesem Dämmerlicht! Wer soll denn so einen Schatten auf der Straße erkennen?!“

SOHN: „Dann halt doch an und rede mit dem Kind!“

VATER: „Um mir ’ne dämliche Antwort anzuhören?!“

SOHN: „Du sollst ja reden – nicht meckern!“

VATER: „Also, laß mich in Frieden. Ich kann nicht alle fünf Minuten anhalten, um ein Kind liebevoll davon zu überzeugen, dass es Licht an seinem Fahrrad braucht!“

SOHN: „Wenn ’s doch um Leben und Tod geht?“

VATER: „Das sollen sich dann mal die eigenen Eltern überlegen! Ist ja schließlich und endlich nicht mein Kind.“

SOHN leise und enttäuscht: „… nicht dein Kind … Du redest genauso wie der Herr Gehrke mit den Autos.“

VATER: „Was soll das heißen?“

SOHN: „Na, der hat auch gesagt: Sind ja nicht meine Autos. Ich meine neulich, als auf unserem Parkplatz die Antennen und Scheibenwischer und all das abgeknackt worden…“

VATER dazwischen: „Was denn?! Willst du damit sagen, dass der Gehrke gesehen hat, wie unsere Wagen demoliert wurden??“

SOHN: „Ja doch, der hat gerade aus dem Fenster geguckt.“

VATER: „Das ist ja unglaublich!! Das hält man ja nicht für möglich! – Schön, vielleicht hat er Angst gehabt, sich mit dem Kerl anzulegen. Aber dann hätte er doch wenigstens die Polizei verständigen können.“

SOHN: „Das war ja gar kein Kerl. Bloß so ’n ganz mickriger kleiner Typ, hat Herr Gehrke gesagt.“

VATER: „Das ist ja nicht zu fassen. Und da hat er nicht mal runtergerufen?“

SOHN: „War’n ja nicht seine Autos. – Der hat ja nicht mal ’n Auto!“

VATER: „Na und?? Autos sind ja letzlich dem allgemeinen Volksvermögen zuzurechnen. Egal, wem sie gehören! Da hat doch jeder Mensch eine gewisse Mitverantwortung! Das kostet doch alles einen Haufen Geld!“

SOHN: „Ja doch…“

VATER: „Was heißt „ja doch“? Verdien‘ du erst mal ’nen Euro mit deiner Arbeit! Dann reden wir weiter.“

Kleine Pause

SOHN: „Du Papa? – Papa, ich glaub, es wäre wirklich besser, wenn Menschen Sachen wären…“

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