Die Würde des Menschen ist unantastbar
Sonja und ihre Mutter gehen in der Stadt shoppen. Sonja liebt das: Schaufenster gucken, Eis essen und am Ende fällt immer eine Kleinigkeit für sie ab. Die rosa Strumpfhose, die sie neulich bestaunt hat, passt genau zu ihrem neuen Kleid. Das sieht Mama bestimmt auch so, wenn sie sie erst einmal gesehen hat!
Als sie an der Hauptstraße sind, gehen sie aber nicht nur an schicken Schaufenstern vorbei, auch Obdachlose sitzen hier und da am Rand und betteln nach ein paar Cent. Ein Bild, an das sich Sonja längst gewöhnt hat. Just als sie vor dem Schaufenster mit der begehrten Strumpfhose stehen, sieht Sonja aus dem Augenwinkel eine alte Frau, die etwas Komisches tut. Sonja dreht sich um. Die Frau beugt sich über einen Papierkorb und fischt etwas heraus. Sonja guckt genauer: Die Frau muss so um die 70 sein, schätzt sie, sie hat ein Kostüm an und auf dem Kopf trägt sie einen schicken Hut mit einer Feder. Komisch, denkt Sonja, und fragt ihre Mutter: „Was macht die Frau da? Die sieht doch ganz normal aus. Kann sie sich denn nichts zu essen kaufen?“ – „Leider wohl nicht“, antwortet die Mutter, „das ist traurig. Eigentlich sollte niemand im Papierkorb nach essen suchen müssen und trotzdem ist das Leben nicht immer so gerecht.“
Das Bild geht Sonja nicht mehr aus dem Kopf. Das merkt auch ihre Mutter. Sie holt ein Buch aus dem Regal und setzt sich mit Sonja aufs Sofa. Im Buch wird erklärt, dass jeder Mensch eine Würde hat und dass es gilt, dieses Grundrecht besonders zu schützen. Viel zu oft, so erfährt Sonja, gab es in der Vergangenheit Zeiten, in denen Menschen gefoltert oder Kinder zu Arbeit gezwungen wurden. „Leider gibt es das auch heute noch“, weiß ihre Mutter. „In vielen armen Ländern ist Folter und Kinderarbeit gang und gäbe.“ – Würde, so heißt es in dem Buch weiter, bedeutet auch Achtung und Anerkennung eines jeden.
In der Nacht erinnert sich Sonja an eine Szene auf dem Schulhof. Sie sieht Cherin, die Mitschülerin, die erst vor kurzem nach Deutschland gekommen ist. Sie war dreckig und hatte alte Sachen an. Die Mitschüler ärgerten und hänselten sie und weit und breit war niemand da, der ihr half. Cherin schämte sich, sie wurde rot und rannte weg …
Ok. Sonja hatte bei den Hänseleien der anderen nie mit gemacht, aber geholfen hatte sie Cherin auch nicht. Am nächsten Morgen geht sie zu ihrem Lehrer und erklärt ihm, was sie auf dem Herzen hat. In der kommenden Sachkundestunde erklärt der Lehrer den Schülern die Grundrechte und das es wichtig sei, die Würde eines jeden zu achten.
Für die nächste Stunde organisiert Sonjas Mutter einen Dolmetscher für Cherin und diese erzählt ihre Geschichte: In ihrer Heimat sollte sie bereits in einigen Monaten heiraten und das obwohl sie erst 12 Jahre alt ist. Cherin wusste, was das bedeutet. Das hatten ihre Schwestern und Cousinen oft genug erzählt. Nein. Sie wollte das nicht. Keine Heirat mit einem Mann, den sie nicht liebt und für den sie nur das Arbeitstier war. Sie wollte in ein Land, in dem die Frauen gleichberechtigt leben, in dem sie zur Schule gehen und einen Beruf ergreifen dürfen. Cherin wollte ein Leben in Freiheit und Würde.
Alle Schüler hörten gespannt zu, aber einige guckten auch betreten zur Seite. Sonja wusste, warum. Geärgert wurde Cherin nicht mehr. Einige Schüler versuchen seitdem vielmehr, Cherin zu helfen. Gut so, findet Sonja.
Und dann fasst Sonja noch einen Entschluss: Wenn sie die alte Frau bei ihrem nächsten Stadtbummel wieder sieht, dann wird sie ihr die fünf Euro, die sie gestern von ihrer Mutter für die Strumpfhose bekommen hat, in die Hand drücken.
.
Artikel 1 des Grundgesetzes
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
.