Reinhard Mey über die deutschen Zustände
Vortext von Martin Schnakenberg
Reinhard Mey wurde am 21. Dezember 1942 in Berlin geboren und entwickelte sich von einem internationalen Chansonnier der 1960er Jahre über einen Geschichten erzählenden Liedermacher der 1970er Jahre (Über den Wolken, Diplomatenjagd, Einen Antrag auf Erteilung eines Antragformulars, Die heiße Schlacht am kalten Buffet, Ankomme Freitag, den 13., Der Mörder ist immer der Gärtner, Ich bin Klempner von Beruf, Keine ruhige Minute, Menschenjunges u.a.) zu einem politisierenden Liedermacher der 1990er Jahre bis heute (Die Waffen nieder, Sei wachsam, Heimatlos, Das Narrenschiff, Frieden, Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht, Kai).
Vielfach eckte er auch mit seinen Texten an; besonders das Lied Sei wachsam mit dem darin enthaltenen Text „Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: / Halt du sie dumm, – ich halt’ sie arm!“, worauf der Bayerische Rundfunk einige Jahre lang auf seine Moderatoren-Tätigkeit verzichtete.
Für weitere Informationen siehe den Artikel in der → Wikipedia und seine → eigene Webseite, die von der EMI Recorded Music GmbH verwaltet wird.
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Das folgende Lied entstand 1998 für das Studioalbum Flaschenpost: „Das Narrenschiff“ ist eine treffende, böse Beschreibung unserer Republik, die heuer genauso treffend ist wie vor 15 Jahren. Aber ob heute jemand zuhört und erkennt, wie wichtig es ist, endlich aufzuwachen? – Die Bajuwaren sind schon zu Lemmingen mutiert …
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Reinhard Mey – Das Narrenschiff (live) – Hochgeladen von DrD111.
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Das Quecksilber fällt, die Zeichen stehen auf Sturm,
Nur blödes Kichern und Keifen vom Kommandoturm
Und ein dumpfes Mahlen grollt aus der Maschine.
Und rollen und Stampfen und schwere See,
Die Bordkapelle spielt „Humbatäterä“,
Und ein irres Lachen dringt aus der Latrine.
Die Ladung ist faul, die Papiere fingiert,
Die Lenzpumpen leck und die Schotten blockiert,
Die Luken weit offen und alle Alarmglocken läuten.
Die Seen schlagen mannshoch in den Laderaum
Und Elmsfeuer züngeln vom Ladebaum,
Doch keiner an Bord vermag die Zeichen zu deuten!
Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken,
Die Mannschaft lauter meineidige Halunken,
Der Funker zu feig‘ um SOS zu funken.
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs auf’s Riff.
Am Horizont wetterleuchten die Zeichen der Zeit:
Niedertracht und Raffsucht und Eitelkeit.
Auf der Brücke tummeln sich Tölpel und Einfaltspinsel.
Im Trüben fischt der scharfgezahnte Hai,
Bringt seinen Fang ins Trockne, an der Steuer vorbei,
Auf die Sandbank, bei der wohlbekannten Schatzinsel.
Die andern Geldwäscher und Zuhälter, die warten schon,
Bordellkönig, Spielautomatenbaron,
Im hellen Licht, niemand muß sich im Dunkeln rumdrücken
In der Bananenrepublik, wo selbst der Präsident
Die Scham verloren hat und keine Skrupel kennt,
Sich mit dem Steuerdieb im Gefolge zu schmücken.
Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken,
Die Mannschaft lauter meineidige Halunken,
Der Funker zu feig‘ um SOS zu funken.
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs auf’s Riff.
Man hat sich glatt gemacht, man hat sich arrangiert.
All die hohen Ideale sind havariert,
Und der große Rebell, der nicht müd‘ wurde zu streiten,
Mutiert zu einem servilen, gift’gen Gnom
Und singt lammfromm vor dem schlimmen alten Mann in Rom
Seine Lieder, fürwahr: Es ändern sich die Zeiten!
Einst junge Wilde sind gefügig, fromm und zahm,
Gekauft, narkotisiert und flügellahm,
Tauschen Samtpfötchen für die einst so scharfen Klauen.
Und eitle Greise präsentier’n sich keck
Mit immer viel zu jungen Frauen auf dem Oberdeck,
Die ihre schlaffen Glieder wärmen und ihnen das Essen vorkauen.
Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken,
Die Mannschaft lauter meineidige Halunken,
Der Funker zu feig‘ um SOS zu funken.
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs auf’s Riff.
Sie rüsten gegen den Feind, doch der Feind ist längst hier.
Er hat die Hand an deiner Gurgel, er steht hinter dir.
Im Schutz der Paragraphen mischt er die gezinkten Karten.
Jeder kann es sehen, aber alle sehen weg,
Und der Dunkelmann kommt aus seinem Versteck
Und dealt unter aller Augen vor dem Kindergarten.
Der Ausguck ruft vom höchsten Mast: Endzeit in Sicht!
Doch sie sind wie versteinert und sie hören ihn nicht.
Sie zieh’n wie Lemminge in willenlosen Horden.
Es ist, als hätten alle den Verstand verlor’n,
Sich zum Niedergang und zum Verfall verschwor’n,
Und ein Irrlicht ist ihr Leuchtfeuer geworden.
Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken,
Die Mannschaft lauter meineidige Halunken,
Der Funker zu feig‘ um SOS zu funken.
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs auf’s Riff.
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Siehe auch → https://muskelkater.wordpress.com/2011/11/24/sei-wachsam-ein-lied-von-und-mit-reinhard-mey-live/
Und → https://muskelkater.wordpress.com/2013/04/14/hans-hartz-weiter-so-europa/
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/ 17. September 2013Hat dies auf Bloggen rebloggt.