Eine Kurzgeschichte von Martin Schnakenberg
Unruhig drehte er sich auf die Seite und schlug zum x-ten Mal die lästige Fliege fort, die sich immer wieder auf seine Nasenspitze setzte. Die ganze Nacht hatte er nicht geschlafen und gerade eben hatte der Hahn des nahen Hofes zum zweiten Mal gekräht. Mühsam öffnete er zuerst das linke, dann das rechte Auge, gähnte herzhaft, wobei er sich streckte, als ob er die doppelte Länge erreichen wollte, und hörte ein leises verhaltenes Kichern.
„Rany, lachst du wieder über mich?“
„Nein, mein kleiner Prinz“, kam die Antwort. „Es ist nur immer wieder lustig anzusehen, wie du dich jeden Morgen so lang machst!“
Rany war sein Elf. So wie alle Menschen Schutzengel haben, so waren Elfen für Wichtelmänner als Schutz gedacht. Noch nie hatte Helo seinen Elfen gesehen, denn dieser war unsichtbar für jedes Auge.
„Hilfst du mir heute auch ganz bestimmt?“
„Ja natürlich, mein kleiner Prinz. Ich werde immer bei dir sein.“
Langsam stand er auf, verließ die Scheune, wo er übernachtet hatte, und machte sich auf dem Weg. Heute würde der Bürgermeister der größten Stadt der Erde, der von der Versammlung aller Nationen und den Weltregierungen der Finanzen und der Wirtschaft gemeinsam und einvernehmlich zu ihrem Stellvertreter gewählt worden war, kommen, um mit ihm zu verhandeln. Und dann würde er seine Drohung wahr machen, wenn dieser Vertreter der Erde nicht auf ihn hören würde. Denn zu lange waren die Menschen schon dabei, im Kampf um Gewinne und Rendite die Natur nicht nur zu zerstören, sondern sie regelrecht und unwiderruflich zu vernichten. Die Ureinwohner und alle Tiere waren schon aus den Wäldern verschwunden; vertrieben worden nicht nur durch das Dröhnen der Bulldozer und Kreischen der Sägen, sondern auch durch radikale Privat-Milizen und dem Einsatz von Waffen. Ein Baum nach dem anderen hatte den breiten Straßen weichen müssen, die sich Kilometer für Kilometer in das Land gefressen hatten, mit vielen Abzweigungen zu den Bergen und den dortigen Lagerstätten für Atommüll, Kohlendioxid und giftigem Abfall aus Chemie- und Gen-Laboratorien. Er hatte den Menschen immer wieder erklärt, dass sie Schluss machen müssten mit dem Irrsinn der Vernichtung, weil dieses ihre eigene Vernichtung nach sich ziehen würde. Aber sie hörten nicht auf ihn, dem Wichtel. Und darum würde er die Frist, die er ihnen gesetzt hatte, auch nicht verlängern – auch deshalb nicht, um dadurch den letzten Rest der Natur erhalten zu können.
Während er diese schwerwiegenden Gedanken verfolgte, hatte er nicht bemerkt, dass er schon am Treffpunkt angelangt war: einem gläsernen Palast inmitten des Finanzzentrums am Rande der neu erbauten Stadt mit himmelstürmenden Hochhäusern irgendwelcher Financiers und Börsen-Spekulanten. Traurig blickte er auf der anderen Seite der Straße auf die zerstörte Natur und die Maschinen herab, die darauf warteten, ihr Zerstörungswerk bald wieder aufzunehmen. Dann hörte er auch schon, aus dem gläsernen Palast kommend, den Bürgermeister in schnellem Tempo auf sich zulaufen. Er drehte sich um und wartete darauf, dass sein Gegenüber das Wort ergriff.
„Du wolltest mich noch mal sprechen?“
„Ja, Mister Garden. Haben Sie das Problem gestern in der Notsitzung besprochen?“
„So, wie du es verlangt hast. Leider ohne Ergebnis!“
„Aus welchem Grund?“
„Man sagt, dass ihnen niemand Vorschriften machen kann. Und erst recht nicht ein 13-jähriger dahergelaufener Wichtelknabe!!!“
Die letzten drei Worte stieß er mit deutlicher Verachtung heraus. Helo sah ihn traurig an. Auch dieser Mann war keine Spur besser als die anderen – er dachte auch nur an sein jetziges Leben. Was nach ihm kommen würde, interessierte ihn nicht; auch nicht die der anderen Menschen und dessen Nachkommen.
„Außerdem“, fuhr Mister Garden zornig fort, als Helo keine Antwort gab, „was weißt du als Wichtel, von dem man nicht mal wusste, ob sie wirklich existieren, von der Welt der Menschen?! – Nichts! – Gar nichts!!!“ Dabei schnippte er mit den Fingern und sah Helo wütend an.
Dieser drehte sich um und starrte eine Weile fassungslos auf den Maschinenpark, als suche er dort eine Antwort auf Mister Gardens Anspielung.
„Vielleicht haben Sie recht, Mister Garden:“, begann Helo endlich, „ich weiß nicht viel von eurer Welt. Aber ich glaube, ihr, und da ganz besonders eure gierige Polit- Finanz- und Wirtschaftselite, betrachtet die Natur als etwas, was gerade gut war, euch zu erschaffen, und nun gut ist, um sie euch dienstbar zu machen. Um sie auszubeuten, zu verdrehen und zu verändern, wie es euch beliebt.“
Mister Garden wollte widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Er schien so ganz langsam zu begreifen, dass dieser Wichtelknabe vielleicht doch recht haben könnte.
„Aber diese Einstellung ist falsch“, fuhr Helo fort. „Wir sind ein Teil der Natur, vielleicht nicht mal ein wichtiger. Und wir sind mit ihr verbunden – stärker, als die meisten von uns ahnen. Es gibt Wesen, die diese Verbundenheit mehr spüren als andere. Und unter diesen gibt es welche, die diese Verbundenheit auszunutzen verstehen!“
Dabei drehte er sich wieder dem Bürgermeister zu, dem plötzlich der kalte Schweiß ausbrach: „Was … was meinst du damit: Verbundenheit ausnutzen???“ Seine Augen wurden größer, als wüssten sie die Antwort bereits.
„Ich muss das Leben retten, Mister Garden. Das ist meine Aufgabe: Das Retten von Leben!“ Helo machte eine Pause, dann fuhr er fort: „Wissen Sie, der Mensch kann nicht ohne die Natur leben – aber die Natur ohne den Menschen! … Rany, mach dich bereit. Die Uhr ist abgelaufen!“
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Fremde Wesen, die vielleicht um diese Zeit um die Erde kreisten oder sie aus sicherer Entfernung nur beobachteten, sahen diesen Planeten plötzlich von einer hellroten Korona umgeben.
Die Natur hatte schon einmal Intelligenz hervorgebracht. Sie würde es auch ein zweites Mal schaffen …
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