Tells Erben

Der Weg zur modernen Schweiz

Von Martin Schnakenberg

„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr …“. So beschrieb Friedrich Schiller dichterisch den Bund der Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden im Jahre 1291, der noch heute als Geburtsstunde der Schweizer Eidgenossenschaft gilt. Obwohl dieses nur einer von vielen Zusammenschlüssen von Bürgern und Berglern im Raum zwischen Bodensee und Norditalien war, die alle den Zweck verfolgten, sich vom Druck übermächtiger Nachbarn zu befreien.

Im 14. Jahrhundert schlossen sich dem Bund Luzern, Glarus und Zug an, vor allem aber die mächtigen Städte Zürich und Bern. Anfang des 16. Jahrhunderts war es dann zur „13örtigen“ Eidgenossenschaft gewachsen, zu der nun auch Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen und Appenzell gehörten. Ihre gemeinsamen Angelegenheiten besprachen die 13 „Kantone“ in einem „Tagsatzung“ genannten Rat, der vor allem die Außenpolitik regelte und die Verwaltung der eroberten oder hinzugekauften Gebiete.

Die Eidgenossenschaft war seit 1648 von den europäischen Mächten als souveränes und neutrales Staatswesen anerkannt. Dies war einerseits darauf zurückzuführen, dass die Schweizer die besten Söldner des Kontinents stellten, zum anderen sorgte die Rivalität zwischen Frankreich und dem habsburgischen Österreich dafür, dass keiner dem anderen das Schweizer Gebiet gönnte. Der durch ihre Sicherheit attraktiven Eidgenossenschaft verbanden sich benachbarte Orte und Regionen: Graubünden und das Wallis waren solche „zugewandten Orte“, ebenso wie die Abtei St. Gallen, die Städte St. Gallen, Biel, Neuenburg, Genf, Mülhausen und Rottweil. Mitte des 18. Jahrhunderts entsprach das geographische Bild der Eidgenossenschaft weitgehend der heutigen Schweiz.

Schweiz mit Kantonen und ihrer territorialen Entwicklung

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„Frei“ war diese 13örtige Eidgenossenschaft aber nur nach außen. Im Inneren gab es ebenso wenig Freiheit wie im übrigen Europa auch. Von den städtischen Zentren aus herrschten die alten Adels- oder Kaufmanngeschlechter über die Stadtbevölkerung und die ländlichen Gebiete. Die meisten Bauern waren abhängig von Grundherren, die Höfe klein, so dass sie oft froh waren, wenn einer der Söhne als Söldner in der Fremde sein Geld verdiente. Sicher, an einigen Orten gab es urdemokratische Einrichtungen wie die „Landsgemeinden“. Doch an den Versammlungen durften nur „Vollbürger“ teilnehmen … und deren Zahl hielten die herrschenden Familien begrenzt. Niederlassungs-, Gewerbe- oder gar Pressefreiheit waren Fremdwörter für die meisten Eidgenossen.

Das Verhältnis der 13 Orte untereinander war auch nie spannungsfrei: Seit der Reformation waren konfessionelle Unterschiede der sichtbarste Konflikt, der sich in blutigen Bürgerkriegen entlud und nur wegen der äußeren Bedrohung die Eidgenossenschaft nicht sprengte. Nur langsam fand sich ein Ausgleich zwischen der vorwiegend katholischen Inner- und Ostschweiz und den übrigen, bevölkerungsreicheren protestantischen Regionen. Den konfessionellen Grenzen entsprachen aber nicht wirtschaftliche Einheiten: Die Westschweiz bis hin nach Bern wurde stark von der französischen Ökonomie beeinflusst; die Zentral- und Ostschweiz dagegen orientierte sich nach Zürich hin, dessen Wirtschaft mit Süddeutschland zusammenhing. Und Basel blieb mit dem Elsaß wie mit dem Rheinland verbunden.

Die Schweiz im Mittelalter

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Die Schweiz war im 18. Jahrhundert kein reiches Land. Man war auf Getreide- und Salzeinfuhr angewiesen, was durch Vieh- und Käseausfuhr, vor allem aber durch den „Söldnerexport“, einigermaßen ausgeglichen wurde. Immerhin entwickelte sich in St. Gallen, Basel und Zürich die meist auf Heimarbeitern beruhende Textilindustrie; Genf und später der Jura wurden Zentren der Uhrenherstellung. Aber die alte Eidgenossenschaft blieb ein Agrarland, wobei sich die Landwirtschaft langsam änderte:

Durch eine bessere Neuaufteilung der Äcker und Wiesen konnten die Mittelbauern mehr Land gewinnen, während die große Schicht der Kleinbauern ein immer kärglicheres Dasein fristete. Diesen „Taunern“ blieb nur die Möglichkeit, auszuwandern, sich als Söldner oder Taglöhner zu verdingen oder Geld mit Heimarbeit zu verdienen. Dieses Elend wurde von den wenigsten, die damals die Schweiz besuchten, gesehen. Sie schilderten ein Land wohlhabender Bauern und Bürger vor imposanter Landschaft.

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Lange Unruhe und kurze Republik

Die Idylle trog. Der Aufruhr ging freilich nicht von den „Taunern“ aus, sondern von der ländlichen Oberschicht. Von 1700 an kam es immer wieder zu Aufständen gegen die Vorherrschaft der Städte, ohne durchschlagenden Erfolg. Mit der Aufklärung mehrte sich dann auch in den Städten die Unzufriedenheit mit dem alten Obrigkeitssystem. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution wurden vor allem in der Westschweiz „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ gefordert, Freiheitsbäume als Symbol der Erneuerung aufgestellt.

Der Bundesbrief von 1291

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Die alten Machtträger, allen voran die „Gnädigen Herren von Bern“, versuchten, die neuen Ideen zu unterdrücken, sodass man nun von außen, von General Bonaparte, die Rettung erwartete. Der kam auch. Doch Napoleon war weniger an der Freiheit der Schweizer interessiert als daran, die Alpenpässe unter seine Kontrolle zu bringen. Das alte Regime kapitulierte rasch vor dem übermächtigen Korsen, auch wenn die Begeisterung der Bevölkerung über ihre „Retter“ schnell nachließ, als diese immer höhere Kriegstribute verlangten.

Mit leeren Staatskassen und fremden Soldaten im Land wurde am 12. April 1798 die „Helvetische Republik“ proklamiert, der erste Versuch einer modernen Schweiz. Sie war – von den Ideen der Aufklärung inspiriert – ein Werk Schweizer Patrioten. Aus dem Bund der 13 Orte wurde nun eine Republik von 40 gleichberechtigten Regionen, die einer starken Zentralgewalt unterstehen sollten. Deutsch, Französisch und Italienisch wurden als die drei Staatsprachen anerkannt. Tell, der „Tyrannenmörder“, wurde einer der Helden der Republik –  und im Mittelpunkt der neuen Verfassung stand der Menschenrechtskatalog mit besonderer Betonung der Gleichheit.

Aber diese Helvetische Republik blieb nur ein kurzlebiger Traum von Reformern, die zu viel gewollt hatten. Die Übergriffe der Besatzer verschafften dem neuen Staat einen schlechten Start. Allzu radikale Ideen ließen gut durchdachte Schul-, Justiz- und Verwaltungsreformen scheitern. Die geplünderten Kassen ließen einen ordentlichen Staatshaushalt nicht zu. Konservativer Widerstand regte sich; in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts kam es zu blutigen Auseinandersetzungen, die nach dem Abzug der französischen Truppen in offenen Bürgerkrieg mündeten.

Napoleon selbst half dann mit bei der Liquidierung der Republik, die nicht mehr so recht in seine Kaiser-Landschaft passte: 1803 diktierte er den Schweizern eine „Mediationsakte“, die die alten Verhältnisse wieder herstellte. Immerhin kamen mit St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt neue Kantone hinzu. Nach dem Sturz Napoleons wurde auf dem Wiener Kongress die „immerwährende Neutralität“ der Eidgenossenschaft erneut betont. Gleichzeitig erhielt das Land seine heutigen Grenzen. Mülhausen kam zum Elsaß, Rottweil zu Württemberg, dafür kehrten Genf, Neuenburg und das Wallis zurück. Die 22örtige Eidgenossenschaft war entstanden.

Bannerträger mit der Trikolore der Helvetischen Republik

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Noch einmal erkämpften die alten Patriziergeschlechter der Städte die Herrschaft, von den Errungenschaften der Helvetischen Republik blieb fast nur die Niederlassungsfreiheit übrig. Fortschritt zeigte sich zunächst nur auf ökonomischen Gebiet: Die Landwirtschaft wurde mechanisiert, die Umstellung auf Viehhaltung gefördert und damit der Käseexport. Das setzte aber viele Arbeitskräfte frei, die nun ihr Brot in den Textil-, Uhren- und Maschinenfabriken verdienen mussten. Besucher aus Europa, allen voran die Engländer, entdeckten derweil die Schönheit der Alpen, der Tourismus entwickelte sich zu einer neuen Einnahmequelle. Der Wirtschaftsaufschwung wurde aber dadurch behindert, dass sich die Kantone nicht auf ein einheitliches Maß- und Münzsystem einigen konnten und jeder an seinen Grenzen Zölle erhob.

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Mit Waffengewalt zum neuen Bund

Der Ruf nach einer Zentralgewalt, einem Bundesstaat, kam auch von den immer zahlreicheren patriotischen Organisationen, Studenten- und Schützenvereinen, den gebildeten Schichten, die noch immer von der Herrschaft ausgeschlossen waren. Die Juli-Revolution 1830 in Frankreich gab Anstoß zu einem erneuten Reformversuch: In der Hälfte der Kantone – mit zwei Dritteln der Bevölkerung – wurden liberale Verfassungen erzwungen, die auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhten. Die „Großen Räte“, die Kantonsparlamente, wurden dort nun proportional von der Gesamtbevölkerung gewählt, das Übergewicht der Stadt gegenüber dem Land beendet. In St. Gallen erhielten die Stimmberechtigten gar die Möglichkeit, in direkter Abstimmung vom Rat beschlossene Gesetze ablehnen zu können – die Geburtsstunde des Referendums in der Schweiz!

Freilich, diese liberale Erneuerung setzte auch Gegenkräfte frei: Da sich die radikalen Erneuerer auch stark gegen die Kirche, speziell die katholische, wandten, wuchs der Widerstand vor allem in den katholischen Kantonen. Auf keinen Fall wollte man einen starken Bundesstaat, der die katholische Minderheit unterdrücken konnte! So schlossen sich 1845 Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug, Freiburg und Wallis zu einem „Sonderbund“ zusammen, in dem jedoch nur 415.000 Menschen lebten, während die liberalen Kantone eine Bevölkerung von knapp zwei Millionen besaßen. Als 1847 die Mehrheit der Tagsatzung – so hieß der gemeinsame Ausschuss der Kantone noch immer – die Auflösung des „Sonderbundes“ verlangte, kam es zum Bürgerkrieg. In nur 26 Tagen siegten die liberalen Kantone und die Schweiz konnte nun von einem konservativen Staatenbund zu einem liberalen Bundesstaat werden.

Im Sommer 1848 wurde vom Schweizer Volk mit Dreiviertelmehrheit die neue Verfassung angenommen. In dem neuen Bundesstaat behielten die Kantone zwar eine starke Stellung, aber letztlich galt nun doch das Prinzip: „Bundesrecht bricht Kantonsrecht“! Die Bundesversammlung, so hieß nun das Parlament, erhielt zwei Kammern: Einmal den „Nationalrat“, der proportional zur Bevölkerung zusammengesetzt war. Im „Ständerat“ hingegen waren alle Kantone mit zwei Repräsentanten vertreten.

Eine eidgenössische Besonderheit kam hinzu: Eine Entscheidung oder ein Gesetz musste von beiden Kammern gutgeheißen werden, der Nationalrat hatte und hat keine Priorität; bis heute besteht hier der Zwang zur Einigung, zum Kompromiss! Die Exekutive bildete ein von beiden Kammern gemeinsam zu wählender „Bundesrat“ aus sieben Mitgliedern. Nationalflagge wurde das weiße Kreuz im roten Feld; zur Bundeshauptstadt machte man Bern. Das Prinzip der Dreisprachigkeit wurde in der Verfassung verankert, alle offiziellen Texte mussten in den drei Landessprachen abgefasst werden. All dies war, verglich man es mit dem übrigen Kontinentaleuropa, recht fortschrittlich!

Den politischen Platz darin musste sich die Schweiz aber erst erkämpfen. Entscheidend dabei war, dass keine Großmacht der anderen einen bestimmenden Einfluss auf die Schweiz gönnte. Und es war auch die immer wieder bekundete Wehrbereitschaft, die die Neutralität sicherte. Während der Kriege von 1859 und 1866 in Oberitalien und des deutsch-französischen Kriegs 1870/71 erfolgten Teilmobilmachungen zum Schutze der Grenzen. So kam es, dass sich 1871 die französische Südarmee, immerhin 87.000 Mann, dem Schweizer Oberbefehlshaber ergab – auch deshalb, weil sich die Eidgenossen inzwischen einen guten Ruf als neutrale Vermittler erworben hatten. Bis heute macht diese „stille Außenpolitik“ als Schiedsrichter, Konferenzgastgeber und Schutzmacht einen wesentlichen Teil des eidgenössischen Ansehens aus.

Der Bundesstaat von 1848 machte auch den Weg frei für einen weiteren wirtschaftlichen Aufschwung. Die Schweiz war jetzt ein einheitlicher Wirtschaftsraum. Neben der Textil-, Uhren- und Maschinenbauindustrie wurden chemische und Nahrungsmittelfabriken (Schokolade) gegründet. Ein Eisenbahnnetz überzog bald das Land (heute ist es das dichteste Europas), die neuen Alpentunnel am Gotthard und später am Simplon zogen den Durchgangsverkehr an.

In den fünfzig Jahren 1864 bis 1914 stieg die Bevölkerung von zweieinhalb auf fast vier Millionen, die nur zum Teil Arbeit in der Industrie und im Dienstleistungssektor – vor allem im Tourismus und Bankwesen – fanden. Viele Schweizer wanderten in dieser Zeit aus, andere lebten am Rand des Existenzminimums …

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Volksabstimmungen und die „Zauberformel“

Es bildeten sich auch neue politische Strömungen heraus: Nach 1848 hatte die freisinnige Bewegung, die Vereinigung der Radikalen und Liberalen, die eindeutige Mehrheit. Dabei handelte es sich um eine breite Volkspartei, dem „Freisinn“ gehörten Unternehmer, Intellektuelle, Handwerker, Bauern und Arbeiter an, und da zunächst fast überall das Mehrheitswahlrecht herrschte, verfügte er über eine bequeme Mehrheit im Nationalrat. Im Ständerat konnte die konservativ-katholische Opposition einige Sitze ergattern.

Innerhalb der herrschenden Partei gab es wenigstens unterschiedliche Strömungen; eine davon drang auf mehr Demokratie, wie sie dann in der 1874 verabschiedeten Revision der Bundesverfassung verwirklicht wurde. Eine Neuerung war besonders wichtig: Alle Bundesgesetze und -beschlüsse wurden einer Volksabstimmung unterworfen, sofern dies mit ihrer Unterschrift 30.000 Bürger (heute 50.000) verlangten, das sogenannte „fakultative Referendum“. 1891 trat dazu die Möglichkeit der „Volksinitiative“, das hieß: Bürger konnten von sich aus Gesetzesvorschläge zur Abstimmung stellen, sofern sie dafür 50.000 (heute 100.000) Unterschriften zusammenbrachten.

Darstellung der Eidgenossenschaft auf dem Frontispitz der Topographia Helvetia von Matthäus Merian, 1654

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Auch die Gegner der Freisinnigen nutzten die damit gegebenen Möglichkeiten. So konnte der Bund zwar bald das Gesundheitswesen, die Forst- oder Gewässernutzung unter seine Kontrolle bringen, ein einheitliches Schulwesen scheiterte hingegen am Volksveto. Die demokratische Bewegung setzte auch durch, dass bei Wahlen das Proportionalsystem durchgesetzt wurde. Nun hatten auch kleinere Parteien wie die aufkommende Sozialdemokratie eine Chance auf Parlamentssitze!

Mit der Vielfalt der Parteienlandschaft entwickelte sich eine weitere eidgenössische Eigenheit, das „Konkordanzprinzip“: Die regierende Partei – fast überall der Freisinn – bot den wichtigen Oppositionsgruppen freiwillig einen Sitz in der Regierung an. Freilich, die Sozialdemokraten waren noch lange nicht Objekt solcher Integrationsversuche; sie galten – wie im übrigen Europa auch – als „Umstürzler“, deren Einfluss man durch eine staatliche Sozialgesetzgebung einzudämmen suchte.

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert präsentierte sich die Schweiz, vor allem politisch gesehen, als relativ moderner Kleinstaat im Herzen Europas. Noch gab es starke soziale Unterschiede, zwischen den Bürgern, aber auch den Kantonen. Die Mehrsprachigkeit war Chance und Schwierigkeit zugleich. Chance, weil sich die Kulturen vermischten und gegenseitig befruchteten; Schwierigkeit, weil sich die „Romandie“ naturgemäß an die französische Kultur anlehnte, der Tessin in Richtung Italien blickte, und die Deutschschweiz stark von Kunst und Kultur des übrigen deutschen Sprachraums beeinflusst wurde. Dies führte durchaus zu Konflikten, etwa als Kaiser Wilhelm II. in der Deutschschweiz fast überschwenglich empfangen wurde, was die anderen Eidgenossen mit großem Misstrauen sahen. Dabei war (und bleibt) das Verhältnis der Deutschschweizer zu den „Schwoben“, wie sie die Reichs- (und Bundes-)Deutschen nennen, von einer eigenartigen Hassliebe geprägt: Auf der einen Seite steht die Bewunderung für die kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen des großen Nachbarn, andererseits auch die Angst, von dort geistig oder auch militärisch vereinnahmt zu werden. Ein Mittel, die Eigenständigkeit zu bewahren, war deshalb die Beibehaltung der ausgeprägten Dialekte. Zugleich schuf man sich eine Art Volkskultur, die heimat- und naturverbunden ist.

Insgesamt definierte sich das Schweizer Nationalbewusstsein aber vor allem über die politische Kultur. Die Eidgenossen waren stolz auf ihre Freiheitsrechte, besonders auf die Freiheit, „Nein“ zu Vorschlägen der Regierung sagen zu können, und sie waren stolz auf ihre Freiheit von außen.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es zu Spannungen zwischen der Romandie und der Deutschschweiz, weil die Sympathien dem jeweils gleichsprachigen Nachbarn zuneigten, aber es siegte doch der gemeinsame Wille, sich aus dem Konflikt heraus zu halten.

Sehr viel ernster war der Ausbruch sozialer Konflikte, die Ende 1918 im Aufruf der Sozialdemokraten zum Generalstreik gipfelte. Bei den Wahlen 1919 verlor der Freisinn erdrutschartig, besonders an die neugegründete „Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei“ (die heutige Schweizer Volkspartei SVP). Umgehend wurde die Konkordanzdemokratie verstärkt: 1919 erhielten die Konservativ-Katholischen (heute die CVP) einen zweiten Sitz im Bundesrat, von 1929 an war auch die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei mit einem Mitglied vertreten. Im 2. Weltkrieg bezog man dann erstmals auch die SP in die Regierungsverantwortung ein – seit 1959 stellen die Sozialdemokraten zwei Bundesräte. Damit war die heutige „Zauberformel“ erreicht: Von den sieben Ministern stehen der FDP, der CVP und der SP je zwei Sitze zu, der SVP einer.

Das Bundeshaus in Bern 1902

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Die Insel im Sturm

Zuvor, in der Zeit bis 1945, hatte die Schweiz ihre wohl schwerste Belastungsprobe bestanden: Ihre Selbstständigkeit sah sich vom nationalsozialistischen Deutschland bedroht: holte Diktator Hitler auch die Eidgenossen „Heim ins Reich“? Eingeschlossen zwischen dem faschistischen Italien, dem seit 1938 um Österreich „erweiterten“ Deutschen Reich und später dem besetzten Frankreich, versuchte der Bundesrat in einer schwierigen Schaukelpolitik, die Unabhängigkeit zu bewahren.

Den ganzen Weltkrieg über war die Armee mobilisiert, eine ungeheure Belastung für das kleine Land. Aber Hitler sollte klargemacht werden, dass er die Eidgenossen nur unter großen Opfern besiegen konnte! Natürlich machte die Regierung in Bern auch Konzessionen: Ein Großteil der Schweizer Industrie exportierte nach Deutschland – auch Rüstungsgüter. Was einem US-amerikanischen Diplomaten zu der Bemerkung veranlasste: „Sechs Tage in der Woche arbeiten die Schweizer für Hitler, am Sonntag beten sie für den Sieg der Alliierten.“ Aber was sollten sie auch anderes tun?

Der dunkelste Punkt in dieser Zeit war wohl die Asylpolitik: In den ersten Jahren des Nationalsozialismus’ waren Tausende von Emigranten in die Schweiz geströmt und dort auch aufgenommen worden. Dann aber sperrte die Schweiz, auch auf deutschem Druck hin, unter dem unheilvollen Motto „Das Boot ist voll!“ die Grenzen. Viele Asylsuchende, vor allem Juden, wurden nach Deutschland – und damit in die Gaskammern – zurückgeschickt. Auf der anderen Seite gab es zahlreiche private Organisationen, die Flüchtlingen halfen …

Sicher ist, dass die isolierte Schweiz den Weltkrieg nur deshalb überstand, weil die ganze Bevölkerung große Anstrengungen und Härten auf sich nahm, um Wehrbereitschaft und Lebensmittelproduktion zu sichern.

Nach 1945 erlebte die von Kriegsschäden verschonte Schweiz einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung. Besonders die durch ein strenges Bankgeheimnis geschützten Banken wuchsen – nicht immer zur Freude ausländischer Finanzämter. Der Tourismus wurde eine immer wichtigere Einnahmequelle. Was den Lebensstandard betrifft, so steht die Schweiz heute ganz vorne, und sie gilt auch als eines der politisch stabilsten Länder, auch wenn man den Druck der Bankkrisengeschüttelten EU mit einbezieht. Der einzige größere innenpolitische Konflikt war in den 1970er Jahren das Streben der Bewohner des französisch sprechenden Jura, sich vom Kanton Bern loszulösen. Nach teils dramatischen Auseinandersetzungen wurde 1978 der Jura 23. Kanton.

Urform der schweizerischen Basisdemokratie: die jährlich stattfindende Landsgemeinde im «Ring» stehend (hier im Kanton Glarus). Nur die Kantone Glarus und Appenzell Innerrhoden kennen heute noch diese Form der Demokratie.

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Ein strukturelles Problem ist, dass die Schweiz mit knapp acht Millionen Einwohnern sehr dicht besiedelt ist. Der hohe Ausländeranteil dabei führt immer wieder zu Spannungen, gelegentlich zu Fremdenfeindlichkeit. Der Wille, Selbständigkeit und Eigenart zu bewahren, fand auch außenpolitisch seinen Ausdruck in Volksabstimmungen, die einen Beitritt zu den Vereinten Nationen vehement ablehnten. Andererseits bleibt die Schweiz traditionell Gastgeber für internationale Konferenzen, ist Genf der zweitwichtigste UN-Standort.

Die Alpenrepublik ist ein schönes Land voller Widersprüche, von dem leider oft vergessen wird, dass es neben „Schoggi, Chäs und Bankg’heimnis“ auch über eine reiche geistige und politische Kultur verfügt, und dass einem Reisenden auf allen Wegen liebenswerte Eidgenossen begegnen.

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Bücher zum Thema (in den meisten Büchereien/Bibliotheken vorrätig):

„Geschichte der Schweiz“ von Ulrich im Hof, Urban-Taschenbuch Nr. 188

„Wer regiert die Schweiz?“ von Hans Tschäni, Piper-Verlag Nr. 508

„Geschichte der Schweiz und der Schweizer, 3 Bände im Basler Verlag Helbing & Lichtenhahn

„Der Weg zur Gegenwart – Die Schweiz im 19. Jahrhundert“ von Georg Kreis, Verlag Birkehäuser

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Weitere Informationen:

Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Schweiz, mit weiteren Bildern, die alle der GNU-Lizenz unterliegen.

„Enzylopädie der Weltgeschichte“ aus dem Holle-Verlag (Holle, Universalgeschichte), die Wikipedia mit mehreren Artikeln, und natürlich meine Lieblingslektüre „Spektrum der Weltgeschichte“ von TimeLife-Bücher.

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